Oben: Vorderseite des hölzernen, mit Leder überzogenen Einbanddeckels des Dietwiler Zwingrodels von 1530: Im oberen Drittel prangt das Wappen der Zwingherrin Stadt Luzern in floraler Blindprägung.

Der Dietwiler Zwingrodel von 1530
Eine bemerkenswerte Rechtsquelle



Die Editionsreihe «Sammlung schweizerischer Rechtsquellen» umfasst zwei parallel laufende Editionslinien des städtischen und ländlichen Rechts: «Stadtrecht», das in Stadtstaaten des Ancien Régime zum «Staatsrecht» wurde, und «Rechte der Landschaft». Entsprechend der verschiedenen Fokussierung auf Stadt/Staat oder Landschaft/Region gestaltet sich auch die Arbeit der Rechtsquellenedition unterschiedlich. Während sich bei einem Stadtrecht-Projekt die Quellensammlung auf ein einzelnes Stadtarchiv und/oder das Staatsarchiv und bei Projekten von Gemeinen Herrschaften auf verschiedene Staats- und Stadtarchive konzentriert, hat der Bearbeiter eines Landbandes seine Quellen ebenso im zuständigen Staatsarchiv für die staatliche Überlieferung, wie auch in den kommunalen Archiven seines Editionsgebietes für die regionale und örtlich-kommunale Überlieferung zusammenzusuchen. Unter den kommunalen Archiven versteht man die Archive der Einwohnergemeinden ebenso wie jene der älteren Ortsbürger-, Burger- oder Korporationsgemeinden oder, wie im aargauischen Freiamt, der Gerechtigkeitsvereine.



1. Editionsarbeit als «
Feldforschung» im Dienst der Rechtsquellenstiftung


Die Bearbeiter von Landbänden haben je nach Editionsauftrag ausgedehnte Archivfahrten vor sich. Da publizierte Archivverzeichnisse fehlen, wissen sie in den meisten Fällen nicht, was sie am Bestimmungsort antreffen: Sind örtliche Geschichtsquellen, die vor die moderne Verwaltungsregistratur und auch vor 1800 reichen, erhalten geblieben? Unter diesen Umständen gestalten sich Archivfahrten überwiegend zu Unternehmen von spannender «Feldforschung», bei denen Rechtsquellenbearbeiter alles antreffen können –– unerwartet reiche Funde oder das völlige Fehlen der lokalen Überlieferung, Erfreuliches also ebenso wie Betrübliches.

 

Von einem erfreulichen Fall soll hier berichtet werden, der aufzeigt, wie Rechtsquelleneditionen zur Erhaltung der Überlieferung und zur Förderung des Geschichtsbewusstseins einer Bevölkerung beitragen. Damit kommt der Editionsreihe der Rechtsquellenstiftung des Schweizerischen Juristenvereins nicht nur ein hoher Wert als wissenschaftliches Instrumentarium, sondern auch hohe kulturpolitische Bedeutung zu.

 

Die Gemeindeverwaltung der aargauischen Reusstalgemeinde Dietwil wurde durch die Rechtsquellenberaterin auf eine spezielle Rechtsquelle ihres Gemeindearchivs –– auf den Dietwiler Zwingrodel von 1530 –– aufmerksam gemacht. Gleichzeitig erfuhr die Gemeindeverwaltung vom desolaten Erhaltungszustand der Archivalie. Sie stimmte dem Vorschlag der Editorin zu, den Rodel einem bekannten Buchrestaurator vorzulegen und eine Offerte für die Restaurierung einzuholen. Dem Gemeinderat wurde mit der Offerte ein Gutachten der Editorin zur Bedeutung des Zwingrodels für die Geschichtstradition der Gemeinde vorgelegt. Der Gemeinderat entschloss sich sofort für die Restaurierung: «Der Gemeinderat sieht in dieser Restaurierung die Rettung eines Kulturerbes der Gemeinde Dietwil». Bereits steht fest, dass die Editorin den restaurierten Zwingrodel der Bevölkerung in einem Vernissage-Vortrag als zentrale Quelle der Dietwiler Geschichtstradition vorstellen wird.

 


2. Das Beispiel des Dietwiler Zwingrodels von 1530: das Gutachten

 

Im Gemeindearchiv von Dietwil liegt ein bemerkenswerter Zeuge der Vergangenheit –– es ist der Dietwiler Zwingrodel. Er repräsentiert einen guten Teil der Dietwiler Geschichtstradition und dokumentiert die einst enge Verbundenheit mit der Stadt Luzern. Der Rodel war für Dietwil das zentrale Rechtsdokument, das während der langen Zeitspanne von 1530 bis 1798 das Rechts- und Wirtschaftsleben der Gemeinde regelte, dann aber im Modernisierungsprozess des 19. Jahrhunderts seine Bedeutung verlor und vergessen ging.

 

Der nachfolgende Kommentar soll die Bedeutung des Zwingrodels für das frühere Rechts- und Wirtschaftsleben der Gemeinde beleuchten.

->   Die Dietwiler Geschichtstradition

 

Der Twing oder Zwing (= Herrschaft, Herrschaftsbezirk) Dietwil wurde von der Stadt Luzern 1422 erworben. Luzern besass da nur die untere/niedere Gerichtsbarkeit. Die hohe Gerichtsbarkeit und kraft ihr die Landesherrschaft und Landesverwaltung gehörte den eidgenössischen Stadt- und Länderorten, das waren ab 1425 die Sechs Orte (ZH, LU, SZ, UW, ZG, GL), ab 1530 die Sieben Orte (neu UR) und ab 1712 die Acht Alten Orte (neu BE). Dessen ungeachtet band Luzern seinen Zwing Dietwil rasch in seine eigene Landesherrschaft ein: Ein Luzerner Ratsherr, «Zwingherr» genannt, versah die Verwaltung und das Gerichtswesen des Zwings von der Stadt Luzern aus auf Dienstreise. Als «Zwingherr» amtete der jeweilige Landvogt der Landvogtei Habsburg (Region zwischen Zuger- und Luzernersee und Reuss) im Doppelamt für jeweils zwei Jahre.

 

Die Geschichtsquellen zur Dietwiler Zwing- und Dorfgeschichte sind daher stark «luzernlastig»: In Luzern entschieden Schultheiss und Rat die Händel zwischen Dietwiler Dorfgenossen. Luzern regelte zusammen mit den Dorfgenossen das Wirtschafts- und Rechtsleben der Dietwiler Bevölkerung von 1422 bis 1798.

 

In Gemeindebesitz ist heute nur eine einzige namhafte Geschichtsquelle erhalten geblieben: eben der Dietwiler Zwingrodel von 1530, der das Recht der Zeit um 1530 (= Anlage des Rodels) und mit Nachträgen auch das sich weiter entwickelnde, bis 1798 geltende Gemeinderecht beinhaltet.

->   Der Dietwiler Zwingrodel: eine bemerkenswerte Geschichtsquelle

 

Der Zwingrodel entstand 1530 als politisches Instrument des Standes Luzern zur Behauptung seiner im Zwing Dietwil in die Freien Ämter vorgeschobenen Herrschaftsposition. Nach dem Kauf der Herrschaften Gisikon-Honau und Dietwil, die seit 1432 durch die Reussbrücke bei Gisikon über den Fluss hinweg verbunden waren, erstreckte sich luzernisches Territorium in den getreidereichen Aargau hinein. Dasselbe Ziel einer Expansion in den Aargau verfolgte auch Zug mit dem Kauf der Zwingherrschaft Rüti (Oberrüti) 1498 und der Fähre Sins 1486. Eine weitere Konkurrentin um Einfluss in den Freien Ämtern war die Stadt Zürich; unter ihrer Protektion begann sich ab 1523 die Reformation von Bremgarten aus wie ein Lauffeuer in die Ämter auszubreiten.

 

Damit sah der Rat von Luzern seine Rechtsposition als Zwingherr von Dietwil in Gefahr und demonstrierte in Gegenwehr seine Herrschaftsrechte. Zu diesem Zweck liess er das bestehende Zwingrecht — das war «der allt zwingrodel» — durch eine Kommission von erfahrenen Ratsherren überarbeiten. Zwinggenossen aus Dietwil, nämlich Ammann, Weibel, Gerichtssässen und andere im Recht erfahrene Leute, wirkten mit. Der Zwingrodel von 1530 war zu einem guten Teil eine Art Gemeinschaftswerk von Untertanen und Herrschaft, wobei Letztere dominierte.

Der Zwingrodel von 1530 vereint und ordnet drei unterschiedliche Rechtsebenen:

•    An erster Stelle setzte Luzern seine Herrschafts- und Gerichtsrechte im Zwing in Szene. Zu Beginn umreisst eine detaillierte Grenzbeschreibung das Territorium und konkretisiert den territorialen Rechtsanspruch (Art. 1–8).
•    An zweiter Stelle folgen die lokalen Dorfrechte, die Rechte und Ordnungen rund um die Dietwiler Flur, vom Acker-, Wies- und Weideland bis zu den Wäldern. Diese Flurordnungen waren wohl zu einem grossen Teil schon im «alten Zwingrodel» aus dem 15. Jahrhundert enthalten gewesen. Diese «Bauernregeln» stellen alte einheimische Rechtsbräuche rund um den wichtigsten Wirtschaftszweig, die Landwirtschaft, dar (Art. 9–39).
•    An dritter Stelle wird das Gerichts- und Bussenwesen, die Verfahren in der Ziviljustiz, im Pfand- und Kreditwesen geordnet und reglementiert (Art. 40–52).

->   Überlieferung und Erscheinungsbild des Dietwiler Zwingrodels: ein Imponierwerk

 

Die Vorgängerquelle –– «der allt zwingrodel» –– ist nicht erhalten. Der «neue» Zwingrodel ist dagegen in fünf Fassungen überliefert: Der Dietwiler Zwingrodel von 1530 ist das Original, die anderen vier sind Abschriften: die älteste Abschrift datiert von 1544 und liegt im Staatsarchiv Luzern. Drei spätere Abschriften sind im Staatsarchiv Aargau.

 

Der «Dietwiler Zwingrodel» ist ein aufwändig hergestellter Pergamentband, der mit seiner teuren Aufmachung «Herrschaftsrecht» darstellen und «imponieren» musste; er lag «in der amtsdruken zu Klein Dietwihl», am Ort des lokalen Gerichts also. Der «Luzerner Zwingrodel» ist ein deutlich bescheideneres Pergamentheft, das in Luzern in der Ratskanzlei lag.

 

Beide Zwingrodel sind gleichermassen sorgfältig angelegte Schriftwerke, welche die Hohe Schule der Luzerner Kanzlei verraten. Die hölzernen Einbanddeckel des Dietwiler Pergamentbands sind mit Leder überzogen und haben schöne Blindprägung (Stempelprägung); auf der Front- und auf der Rückseite prangt das Wappen des Standes Luzern. In der Fachsprache der Restauratoren wird der elegante Dietwiler Einband als «gotisch» bezeichnet. Beide Rodel sind kalligrafisch gepflegt mit verzierten Initialen; im Dietwiler Rodel sind diese rubriziert.

 

Der Dietwiler Zwingrodel wie auch dessen Abschriften waren recht eigentlich Nachschlagewerke: Sie dienten dem luzernischen Zwingherrn oder seinem Dietwiler Statthalter, dem einheimischen Ammann, im Gericht in allen Rechts- und Verfahrensfragen. Sie dienten ebenso den damaligen Dietwiler Gemeindebehörden als Ratgeber in den Gemeindeversammlungen und ganz allgemein beim «Regieren und Verwalten» der Gemeinde.

 

Als Nachschlagewerke mussten die Rodel die laufende Rechtsentwicklung enthalten: Änderungen und Korrekturen einzelner Artikel wurden in den Zwingrodeln durch die Luzerner Ratskanzlei nachgetragen. Um die Benützung zu erleichtern, hat man die Artikel nachträglich am Rand fortlaufend nummeriert, im Dietwiler Rodel mit Blaustift. Das oft konsultierte Dietwiler Original weist deutliche Spuren des Gebrauchs auf: seine Pergamentblätter sind verschmutzt, an einigen Stellen abgegriffen, es gibt Kreuzlein und Verweise hin und her, an vielen Stellen wurden alte Begriffe korrigiert und überschrieben, denn mit der Zeit hat man die alte Sprache nicht mehr verstanden. So etwa wurde das um 1530 übliche Wort «mennen» überschrieben mit dem modernen Begriff «führen».

 

Mit dem Sturz des Alten Regimes 1798 wurde die Herrschaft Luzerns und der Eidgenossen weggefegt und mit ihr die aus dem Mittelalter stammenden Herrschaftsvorrechte. Im Lauf der Agrarmodernisierung des 19. und 20. Jahrhunderts kamen auch die alten Bauernregeln aus dem Brauch: der Zwingrodel wurde vergessen und ist heute recht eigentlich eine «Ruine».

->    Der Dietwiler Zwingrodel im Gemeindevergleich: der Älteste, der Prächtigste

 

Im folgenden liste ich in chronologischer Folge sämtliche Rechtsinstrumente der damaligen «Gemeinden» auf, die unter sich vergleichbar sind und heute in den Gemeinden liegen. Unter diesen «Gemeinden» befinden sich heutige politische Gemeinden wie Abtwil, Auw, Beinwil, Dietwil, Oberrüti und Sins sowie heutige Gemeindeteile wie Meienberg, Aettenschwil, Alikon und Fenkrieden (Gemeinde Sins), Wiggwil (Beinwil) und Rüstenschwil (Auw).

 

Es gibt nur ein einziges Rechtsinstrument, das zwar etwas älter, aber eben nicht «zwingherrlich-gemeindlich», auch nicht rein «gemeindlich» (Dorfordnungen), sondern eidgenössisch ist: Es ist das Amtsrecht von Meienberg (im Gemeindearchiv Sins).


•    Amtsrecht von Meienberg, Pergamentheft mit hängendem Siegel, 1527 Juni 5
•    Zwingrodel von Dietwil, Pergamentband, 1530 März 28
•    Dorfordnung von Auw, besiegelte Papierurkunde, 1665 Juni 15
•    Dorfordnung von Alikon, besiegelte Pergamenturkunde, 1677 Mai 26
•    Zwingoffnung von Beinwil, in Leder gebundener Papierband, 1683 Juni 22
•    Twingrodel von Rüti (Oberrüti), in Leder gebundener Papierband, 1728 März 26
•    Dorfrecht von Rüstenschwil, in Leder gebundener Papierband, 1729 Juni 7
•    Dorfordnung von Fenkrieden, besiegelte Papierurkunde, 1733 Juni 8
•    Dorfordnung von Wiggwil, besiegelte Pergamenturkunde, 1749 Juni 18
•    Dorfordnung von Meienberg-Städtli, besiegelte Papierurkunde, 1763 Juni 10
•    Dorfordnung von Abtwil, besiegelte Papierurkunde, 1764 Juni 2

Unter den wichtigsten «zwingherrlich-gemeindlichen» Rechtsordnungen steht Dietwil mit 13 (PC-)Seiten vor Rüti/Oberrüti mit 11 und Beinwil mit 8 Seiten.

 

 

 

Dr. Anne-Marie Dubler
Editorin bernischer und aargauischer Rechtsquellen im Auftrag der Rechtsquellenstiftung des Schweizerischen Juristenvereins.
Die Bände erscheinen in der Editionsreihe «Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen» im Schwabe-Verlag Basel.

 

 

 

Pressemitteilungen zur Präsentation von Dr. Anne-Marie Dubler vom 9. Dezember 2008 in Dietwil:

 

«Untertanen mit viel Freiheit.» Vortrag über den Dietwiler Zwingrodel stiess auf grosses Interesse (Heinz Abegglen), in: Anzeiger für das Oberfreiamt vom 19. Dezember 2008.

«Viel Hafermus und Brot auf dem Speisezettel.» Geschichte: Der fast 500 Jahre alte Zwingrodel von Dietwil erzählt mehr über das Alltagsleben im Freiamt als die Gesetzesurkunde es vermuten liesse (Jörg Baumann), in: AZ-Freiamt, Dezember 2008.